Interessengemeinschaft ehemalige Zwangsarbeiter unter dem NS-Regim
Gründungsaufruf aus 1986
INITIATIVE ZUR GRÜNDUNG EINER INTERESSENSGEMEINSCHAFT EHEMALIGER ZWANGSARBEITER UNTER DEM NS-REGIME
IM JAHR DES FRIEDENS: Endlich Unrecht aus dem Zweiten Weltkrieg beseitigen!
40 Jahre sind seit der Befreiung von Krieg und Faschismus vergangen, doch das Problem der moralischen Wiedergutmachung und materiellen Entschädigung für die Zwangsarbeiter in der faschistischen Kriegswirtschaft ist noch immer nicht gelöst. Am 8. Mai hat Bundespräsident von Weizsäcker den antifaschistischen Widerstand gewürdigt und auch des Leids gedacht, das Millionen Frauen und Männer in der Zwangsarbeit des Naziregimes erlitten haben. Den ehrenden Worten müssen nun Taten folgen, soll politische Kultur in unserem Lande mehr sein als eine Floskel für Feiertagsreden.
Darum wenden wir, ehemalige Zwangsarbeiter, uns an die Frauen und Männer, die mit uns das gemeinsame Schicksal der Nazifront getragen haben: Kämpfen wir gemeinsam um unser Recht auf moralische Wiedergutmachung und materielle Entschädigung, das uns seit Jahrzehnten verwehrt wird. Wir brauchen das Zusammenwirken der Betroffenen, ob Deutsche oder Ausländer, ob KZ-Häftlinge oder Kriegsgefangene, ob Zwangsverschleppte oder Verfolgte aus politischen, rassischen, religiösen oder anderen Gründen.
Wir wollen mit einer Stimme sprechen; für die Minderheit der noch Überlebenden und für die Mehrheit derer, die seinerzeit dem Programm „Vernichtung durch Arbeit“, der brutalen Antreiberei und dem mörderischen Strafsystem, dem Hunger und den Seuchen zum Opfer gefallen oder anschließend an den Folgen verstorben sind. Wir alle sind als „Untermenschen“ behandelt worden, wir mußten schuften bis zum Umfallen, jeder Willkür ausgesetzt, zumeist in Zwölf-Stunden-Schichten, bei Tag und Nacht, in Bergwerken, an Maschinen und am Bau, ungeschützt gegen Nässe und Kälte, und wir haben dafür entweder überhaupt keinen Lohn bekommen oder nur einen Bruchteil dessen, was uns zustand. Der Löwenanteil der durch dieses organisiertes Verbrechen erwirtschafteten Gewinne in Milliardenhöhe haben industrielle Großunternehmen gemeinsam mit ihren Großbanken kassiert. Wir verlangen deshalb vom Bundesverband der Deutschen Industrie eine öffentliche Erklärung, daß die Sklavenarbeit für die Kriegswirtschaft im Naziregime ein Verbrechen war. Diese Konzerne sind verpflichtet, nach ihrem Anteil am System der Sklavenarbeit die bislang vorenthaltenen Lohnzahlungen einschließlich der Zinsen in einen Fonds einzubringen. Der Fonds wird im Rahmen der Interessengemeinschaft durch ein Kuratorium treuhänderisch für alle ehemaligen Zwangsarbeiter des NS-Regimes verwaltet und, ungeachtet anderweitiger staatlicher Wiedergutmachungsleistungen, ausschließlich zur Erfüllung der moralischen und materiellen Ansprüche der Betroffenen verwendet.
Geschichtliche Tatsachen und Zusammenhänge der Versklavung von Millionen Opfern des Naziregimes und der faschistischen Kriegswirtschaft sind der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland so nahe zubringen, daß eine Wiederholung solcher Verbrechen, in welcher Form auch immer künftig ausgeschlossen und das gemeinsame Vermächtnis der Befreiten und der Opfer eingelöst wird, daß von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen darf. Aus dem Fonds sind Fördermittel für entsprechende Forschungsvorhaben, Dokumentationen und Ausstellungen, Errichtung und Pflege von Gedenkstätten bereitzustellen. Den Überlebenden ist der vorenthaltene Lohn nach zuzahlen. Dabei ist ein Mindestbetrag anzusetzen, der die erlittene Arbeitsqual berücksichtigt. Noch bestehende Rentenprobleme müssen großzügig gelöst werden.
Nach allen unseren Erfahrungen werden wir von unseren Ansprüchen so viel durchsetzen, wie wir dafür an Interesse und Unterstützung in breiten Kreisen der demokratischen Öffentlichkeit unseres Landes gewinnen. Den Anfang dazu müssen wir selber machen. Dazu bitten wir Einzelpersonen und Gruppen ehemaliger Zwangsarbeiter, sich bei der Kontaktstelle unserer Initiative unter Angabe des derzeitigen Wohnorts zu melden; Angaben über die Umstände, Orte und die Dauer ihres Sklavendaseins, die verantwortlichen Firmen und die Höhe der Forderungen an sie sind erwünscht.
– Gertrud Müller, ehemalige Zwangsarbeiterin bei den Württembergischen Metallfabriken (WMF)
– Alfred Hausser, ehemaliger Zwangsarbeiter beim Bosch-Konzern,
– Oskar Neumann, ehemaliger Zwangsarbeiter beim AEG-Konzern,
– Willi Heinskill, ehemaliger Zwangsarbeiter bei den Heinkel-Flugzeugwerken.